• Ausgabe 10-11 / 2015

    AUFRUF ZUR BARMHERZIGKEIT

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Unsere Themen im Jahr 2015

Am Puls der Caritas

Auch bei noch so viel Gerechtigkeit wird die Barmherzigkeit nie überflüssig. Ein Zwischenruf von Caritasdirektor Franz Küberl

 

Hungrige speisen, Obdachlose beherbergen, Nackte bekleiden, Kranke und Gefangene besuchen, Tote begraben und Almosen geben: Diese leiblichen Werke der Barmherzigkeit beschreiben einen großen Teil des Portfolios der Caritas und sie sind heute aktueller denn je. Auch die in der späteren Theologie benannten Geistlichen Werke der Barmherzigkeit rechne ich zu den Herzschlagaufträgen der Caritas: die Unwissenden lehren, die Zweifelnden beraten, die Trauernden trösten, die Sünder zurechtweisen, den Beleidigern gern verzeihen, die Lästigen geduldig ertragen, für die Lebenden und Verstorbenen beten.

 

Die Fähigkeit zur Barmherzigkeit beginnt im Kleinen. Die erste Trainingsstation ist die Familie. Im familiären Umfeld lernen die Kinder den Umgang miteinander, aufeinander Rücksicht zu nehmen, zu teilen, zu trösten und sich um Familienmitglieder zu kümmern, denen es nicht gut geht. Es liegt an den Eltern, den Blick von den Nöten innerhalb der Familie auf außerhalb des familiären Umfelds zu erweitern. Dies führt zur Schärfung des

Bewusstseins für die Lebenssituation von Menschen in allen nur erdenklichen prekären Lebenssituationen.

 

Gottes Liebe gilt allen

Elementar für das Barmherzigkeitsverständnis der Caritas ist das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 10, 30–37). Barmherzigkeit ist die konkrete Handlung aus konkreter Gesinnung einer konkreten Person gegenüber. Die Barmherzigkeit steht damit in einer Spannung zur Gerechtigkeit. Gerechtigkeit entspringt der Liebe. Gerechtigkeit für alle Menschen ist deswegen elementar, weil die Liebe Gottes allen Menschen in gleicher

Weise gilt. Alle Menschen haben die gleiche Würde und brauchen daher die Chance, unter vergleichbaren Verhältnissen zu leben. Dies wäre durch noch so gelebte Barmherzigkeit von uns Einzelnen nicht erreichbar.

 

Das Dokument der römischen Bischofssynode aus dem Jahre 1971 zur Gerechtigkeit in der Welt stellt den Zusammenhang zwischen der Nächstenliebe und der Gerechtigkeit auf folgende Weise her: „Die Liebe gebietet an erster Stelle die unbedingte Gerechtigkeit, nämlich die Anerkennung der Würde des Mitmenschen und seiner Rechte; umgekehrt kommt die Gerechtigkeit erst in der Liebe zur Vollendung.“ Diese Spannung wird konkret sichtbar, etwa wenn die Caritas für ihre Arbeit im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit Lob erhält, wohingegen uns bitterböse Briefe erreichen, wenn wir gegen aggressive Formen der Nahrungsmittelspekulationen auftreten.

 

Übererfüllung der Gerechtigkeit

Thomas von Aquin schreibt in seinem Kommentar zum Matthäus-Evangelium: „Gerechtigkeit ohne Barmherzigkeit ist Grausamkeit; Barmherzigkeit ohne Gerechtigkeit ist die Mutter der Auflösung.“ In seiner „Summa“ heißt es: „Barmherzigkeit hebt die Gerechtigkeit nicht auf, sie ist vielmehr die Fülle der Gerechtigkeit.“ Barmherzigkeit ist die Übererfüllung der Gerechtigkeit: ein Mehr an Aufmerksamkeit, ein Mehr an Gespür, ein Mehr an Empfindsamkeit. Gerechtigkeit und Barmherzigkeit bauen aufeinander auf und

ergänzen einander. Beide zusammen werfen den Blick auf das Ganze. Die fachliche Hilfe alleine ist zu wenig, es braucht das „gewisse Etwas“, die Herzhaftigkeit, um Menschen zu betreuen, zu begleiten, ihnen Perspektiven für ihr Leben heute und in Zukunft zu eröffnen. In der Sprache der Caritas gesagt: Die Berührung von Professionalität und Barmherzigkeit erzeugt jene chemische Reaktion, die menschengerechte Hilfe zu gewährleisten sucht. Ich gebe aber schon zu, dass dieser Anspruch – denken wir etwa an Asylgesetze, an die oft dramatische Situation von Asylwerbern, die nicht selten jahrelang im Wartesaal des Lebens verbleiben müssen – nicht immer locker verwirklichbar ist. Nein, es ist verdammt viel Anstrengung notwendig, wenigstens daran anzustreifen.

 

„Man darf nicht als Liebesgabe anbieten, was schon aus Gerechtigkeit geschuldet ist“, ist ein Leitgedanke des Zweiten Vatikanischen Konzils; doch es ist auch gültig, zu formulieren: Es darf nicht auf Gerechtigkeit abgeschoben werden, was aus Liebe geschuldet wird. Auch bei noch so viel Gerechtigkeit wird die Barmherzigkeit nie überflüssig. Gleichzeitig gibt es keinen Rechtsanspruch auf Barmherzigkeit, wollte man einen solchen konstruieren, würde man die Barmherzigkeit ruinieren. Wie zwei Seiten einer Medaille gehören Barmherzigkeit und Gerechtigkeit zusammen, bedingen und brauchen einander.

 

Franz Küberl

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